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39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde

 Der 39. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde wird auf Einladung der Museen der Stadt Nürnberg und der Europäischen Ethnologie / Volkskunde an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattfinden und gemeinsam ausgerichtet werden.

Vorstand und Hauptausschuss der dgv haben sich in ihrer Sitzung am 18.2.2012 auf folgendes Thema geeinigt:

MATERIALISIERUNG VON KULTUR. DISKURSE  DINGE  PRAKTIKEN

Call for Papers
(Einsendeschluss: 5. Okt. 2012)

Die Mitglieder der dgv und alle weiteren Interessierten sind herzlich eingeladen, den Kongress mit zu gestalten. Bitte reichen Sie dazu Vorschläge für einen Beitrag oder ein Panel ein.

In den letzten Jahren sind in den Humanwissenschaften Debatten um das Zusammenspiel von kultureller Materialisierung und Bedeutungsausgestaltung sowie Diskussionen um die Eigendynamik der Dinge und ihrer kulturellen Abhängigkeit von menschlichem Handeln und Handlungsmöglichkeiten lebhaft geführt worden. Eine Disziplin, deren zentrales Forschungsfeld die Alltagskultur ist, die danach fragt, auf welche Weise Menschen miteinander umgehen, sich verständigen und organisieren, ihre Lebensräume unter ökologischen, sozialen und historischen Bedingungen gestalten, welche inneren und äußeren Bilder sie davon entwerfen, kann hier einen wichtigen Beitrag leisten. Gleichzeitig ist zu fragen, welche Herausforderungen und neuen Perspektiven sich aus diesen interdisziplinären Diskussionen für die Volkskunde / Europäische Ethnologie ergeben, welche Potentiale oder auch Grenzen – etwa für die empirische Forschung – sichtbar werden.

Materielle Erscheinungen von Kultur sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten in der Volkskunde / Europäischen Ethnologie auf verschiedenste Weise bearbeitet worden: Neben der breit gestreuten Forschung zum Gebrauch und Konsum der Dinge im Alltag und neben Überlegungen zur Bedeutung museologisch konfigurierter Sammlungsobjekte setzten sich zahlreiche Beiträge mit den prozessualen Beziehungen von geschaffener wie natürlicher, materieller Dingwelt und der Welt des Denkens und Deutens auseinander: etwa in Diskussionen um das Materielle undMaterialisierte Kultur, um Realität und Bedeutung der Dinge oder im Aufruf zur Rehabilitierung der Dinge.

Diesen Anregungen folgend bietet sich nun die Gelegenheit zur Bestandsaufnahme verbunden mit einer kritischen Revision der methodologischen Implikationen und Forschungsprogramme zu Sachkultur beziehungsweise materieller Kultur.

Theoretisches Spannungsfeld

Für die Abkehr von einem essentialistischen Verständnis von Kultur haben Strukturalismus und Semiotik entscheidende theoretische Beiträge geleistet und Impulse geliefert. Sie sind in (de)konstruktivistischen, diskursanalytischen Ansätzen und in Konzepten von Performanz und Performativität weiterentwickelt worden. Das Konzept der „Dichten Beschreibung“, welches Kultur als Text, als ein von Menschen geschaffenes „Gewebe“ von Zeichen, Regeln und Bedeutungen zu fassen sucht, hat als symbolische Anthropologie nachhaltigen Einfluss auf die ethnologischen Kulturwissenschaften ausgeübt.

Doch der Vorrang, der den Bedeutungen (Signifikanten) vor der materiellen Substanz des Bezeichneten (Signifikaten) gegeben wird, kann bei radikaler Auslegung zu paradoxen Aussagen führen: Wenn alle kulturellen Tatsachen von Menschen diskursiv hergestellt und gemacht sind, wenn sie somit keine reale ontologische Bestimmbarkeit besitzen, dann – so wird mitunter behauptet – seien sie auch nicht wirklich, dann seien sie fiktive Setzung, deren Substanz nebensächlich ist.

Neuere kultur- und sozialwissenschaftlichen Theorien betrachten die Gebundenheit der Wirklichkeitsproduktion an sinnhafte Wissensordnungen, Zeichensysteme und Diskurse eher zurückhaltend und kritisch; denn Kultur erscheine unter dem Primat der Sinn-Setzung als rein selbstreferentielles System, während historische und sozial strukturierte Prozesse, sowohl die Praktiken als auch die Kreativität der Menschen, aus dem Blick gerieten, kurz: das Soziale verschwände.

In den verschiedenen Präsenztheorien treten die Sinn- und Bedeutungsdimensionen in den Hintergrund, während die für den Menschen materiell greifbaren und sinnlich erfahrbaren Dinge dieser Welt stärker beachtet werden: Die Berührbarkeit der körperlichen Existenz, das Volumen sprachlicher Polyphonie und die dinghaft gewordenen Materialisierungen von Vorstellungen fordern in den Präsenztheorien ein eigenständiges Recht gegenüber der Vernunftsetzung als alleiniger Basis für kultur-, sozialwissenschaftliche Erkenntnis ein.

Auch Konzepte wie die Akteur-Netzwerk-Theorie suchen in symmetrischer Anthropologie die Trennung von Natur, Gesellschaft / Kultur und Diskurs als Produkt einer historischen Entwicklung zu überwinden. Sie gehen von Kollektiven aus, in denen nicht-menschliche Objekte und Menschen gegenseitig und gleichberechtigt aufeinander Einfluss ausüben, Beziehungen unterhalten, sich transformieren, und somit schließlich Handlungskraft und Handlungsprogramme entwickeln. Die materielle Welt ist damit nicht nur Ressource, sondern selbst Akteur (Aktant) in sozialen und kulturellen Prozessen.

Arbeiten zur Ko-Evolution – im Sinne soziokultureller Ausgestaltung menschlicher Lebensweisen – sehen die Ko-Existenz von Menschen und natürlicher Umwelt als eine Welt der Anpassungen mit normativer Kraft; koevolutionäre Ergebnisse erscheinen als naturalisiertes Zusammenspiel von Mensch und Umwelt/Dinglichkeit.

Materialisierung

Das Thema Materialisierung von Kultur nimmt das vom Menschen und seinen sozialen Praktiken her gedachte, prozessuale Geschehen der Referenzen, Interdependenzen und Korrespondenzen zwischen Materiellem und gesellschaftlichen Konfigurationen mit ihren Bedeutungsgeweben ebenso in den Blick, wie die Frage nach den Vermittlungsverhältnissen in ihrer sozialen und historischen Einbettung.

Materialisierung findet ihren Niederschlag sowohl in der Körperlichkeit, die durch Zivilisationsstandards und Verhaltenskodizes habituell geformt wird, als auch in der Morphologie der Dinge, die durch funktionelle und ästhetische Vorgaben bedingt ist. Beide aber – Körperlichkeit und Morphologie der Dinge – wirken zurück und beeinflussen wiederum den Prozess der weiteren Ausgestaltung der Bedeutungszuschreibungen.

Fragestellungen

Welchen Stellenwert können die Tatbestände und Erscheinungen der materiellen Welt (Objekte, Körper, Praktiken) in der Theoriebildung in Beziehung zu den symbolischen und soziokulturell produktiven Dimensionen beanspruchen? Welche Unterschiede bestehen überhaupt zwischen der ontisch gegebenen beziehungsweise ontologisch erfassbaren Dinglichkeit (stoffliche Natur und Umweltgegebenheit) und der von menschlicher Arbeit hergestellten; und wie können diese gefasst werden? Sind die Erscheinungen der materiellen Welt in ihrer gegebenen natürlichen Dinglichkeit (trotz der partiellen Nicht-Beherrschbarkeit) durch Zuschreibung, durch Einordnung in verschiedene Wirklichkeitsregister oder bedeutungsgeleitete Überformung nicht gleichzeitig Teil des kulturellen Kosmos, sind sie nicht zugleich auch Teil dieser Gestaltfindung und Konstruktion von Wirklichkeit? Sind die von Menschen gestalteten Dinge durch Formgebung, Zwecksetzung und Gebrauch nicht zugleich Anlass und Effekt des Diskurses, der im gesellschaftlichen Raum stattfindet? Und gilt nicht andererseits, dass Alltagsdinge und Alltagshandlungen mit ihrer Rückgebundenheit an die symbolischen Vorgaben aufgrund gleichzeitiger ästhetischer Offenheit und Freiheit eine Dynamik erfahren, in der ihre Materialität eigene Wirkung entfaltet? Wie irritiert oder ’stört‘ Materialität bisweilen die Bedeutungsproduktion? Ist die Natur, selbst wenn sie vom Menschen durch und durch geprägt ist, nicht doch eine der diskursiven Setzung entzogene Wirklichkeit?

Diese übergeordneten Fragenstellungen sind für eine Vielzahl kulturwissenschaftlicher, volkskundlicher oder kulturanthropologischer Forschungen von hoher Relevanz. Im Folgenden sollen einige Themenfelder beispielhaft näher spezifiziert werden.

Dinge, Wissen, Handeln

Materielle Kultur hat wesentlichen Einfluss auf kulturelle Bedeutungen und soziale Konfigurationen. Wie sind Wahrnehmung, Umgang (Aneignung, Handhabung, Gebrauch) mit ihnen und Bedeutung der Dinge aufeinander bezogen? Können Objekte aus ihren Bedeutungen für soziale Gruppen erklärt werden? Welchen Einfluss haben Dinge auf soziale Beziehungen durch ihre Einschreibung in intendierte Handlungen, welche Nutzungsoptionen bieten sie an? Wie verorten, arrangieren Menschen Gegenstände und Dinge in unterschiedlichen privaten und öffentlichen Habitaten und Architekturen?

Welche Bedeutungen haben die Dinge aus der Perspektive der Subjekte; in welchem sozialen, politischen und ökonomischen Zusammenhang stehen sie?

Welche ‚Spannungen‘ und Ambivalenzen zeigen sich zwischen Dinggestaltung und Dinggebrauch? Welche Abweichungen von der erwarteten Praxis (durch Erfahrung und Ausbildung von Routinen etwa) lassen sich beobachten? Wie entwickelt sich – auch unter Berücksichtigung fortschreitender Globalisierung – die Relevanz der Dinge aufgrund veränderter

Produktions- und Distributionsverhältnissen in Bezug auf Angebot, Verfügbarkeit oder Mangel? Welche Logiken und Praktiken von Gebrauch und Verbrauch werden evident, welche kulturelle Dimension besitzt der Topos der Nachhaltigkeit?

Technik, Technologien, Wissensproduktion

Wie wirken soziale, ökonomische, politische Kontexte und Diskurse auf die Entwicklung von Techniken und Technologien ein(etwa Kommunikations-, Informations-, Material-, Medizintechniken), und wie wirken diese Ensembles in Objekten materialisiert (Geräte, Werkzeuge, Maschinen, Stoffe, Programme) auf Gesellschaft und Kultur zurück? Wie verändern diese Dispositive die Wahrnehmungserfahrungen von Raum, Zeit und sozialen Beziehungen? Welche Rolle nehmen sie als Schnittstellen zu virtuellen und digitalisierten Welten ein? Welche anderen techno-sozialen Umwelten entstehen dabei? Welche gesellschaftlichen Entwürfe von Zeit (Utopie, Evolution, Nachhaltigkeit) sind hierbei eingeschrieben oder werden zugemessen? Wie gestalten sich die sozialen Beziehungen im soziokulturellen Kosmos von Menschen, Dingen und Praktiken? Wie verändern sich diese Relationen?

Inwieweit können die an modernen Technologien entwickelten Zugangsweisen und Kulturtheorien (etwa Science, Technology and Social Studies; Akteur-Netzwerk Theorie) gewinnbringend für kulturhistorische Forschung transformiert werden?

Aisthesis, Leib, Körperlichkeit

Kultur als von Menschen Geschaffenes unterliegt der Körperlichkeit, der Dinglichkeit des Leibes. Welche kulturellen Einschreibungen von körperlich sinnlichen Wahrnehmungen und emotionaler Bewertung von Klängen, Geräuschen, Farben, Gerüchen, tastbaren Stofflichkeiten lassen sich im Umgang mit der physischen Welt feststellen?

Welche Verhaltens- und Affektprägungen mit ihren Bedürfnislagen wirken auf die Ding- und Produktgestaltung – als leiblicheEinschreibungen in die Dinge und Körper? Wie verändern sich ihrerseits Ausdrucksformen des Bewegens, Sitzens, Essens, Kommunizierens usw.? Welche Rolle übernimmt der Leib als Medium sozialen Sinnes in sozialen Praktiken wie Ritualen?

Transzendenz, Religion, Erfahrung

Die Materialisationen des Transzendenten und Religiösen in spezifischen Dingwelten und Anordnungen, Raumstrukturen, sakralen Atmosphären und Performanzen beruhen auf religiösen Vorstellungen und Wissensordnungen und den damit verbundenen sozialen Normierungen und Strukturierungen.

Sie werden in religiösen Praktiken sichtbar und sind zugleich Voraussetzungen spirituellen Erlebens. Auf welche Weise, mit welchen Strategien werden religiöse Imaginationen und damit verbundene Transzendenzerfahrungen materialisiert, sinnlich erfahrbar und ‚handelbar‘ gemacht? Welche Deutungen wiederum legen religiös kodierte Objekte nahe und welche Resonanzen erzeugen sie – auch in anderen, nicht-religiösen Kontexten? Wie werden Wirklichkeitsbezüge organisiert, Realitätsbindungen hergestellt und aufrechterhalten, wie werden Orientierungen strukturiert?

Sammlungen, Archive, Museen

Institutionen lassen sich als Materialisierungen von Wissensordnungen und gesellschaftlichen Diskursen begreifen. Verändert sich der Stellenwert dieser „akkumulierten Sachwelten“ und Wissensspeicher mit zunehmenden Digitalisierungsprozessen und diagnostizierter Entmaterialisierungder Welt? In welchem Zusammenhang steht er mit der gesellschaftlichen Relevanz, die Dingen und Gütern beigemessen wird?

Welche Auswirkungen hat die Perspektivzentrierung auf Materialisierung für Fragestellungen, Methoden, Arbeitsweisen und Erkenntnisse der sogenannten Sachkulturforschung? Welche Rolle spielt die konkrete Sachforschung noch? Sind die Objekte, Sachen, Dinge Ausgangspunkt der Analyse und Deutung oder wird ihnen lediglich die Rolle des Illustrationsmediums für Inhalte und Themen zu geschrieben? Welche „Objekt“ -, und „Ding“- Konzepte existieren in der Museumsarbeit (Spur, Botschaft, Indikator, Exempel, Faszinosum, Epistem, Itinerar etc.)?

Welche Rückschlüsse läßt die Aufarbeitung der Sammlungsgeschichte und die epistemische Verortung der Dinge und Museumsarchitekturen zu?

Welche Rolle spielen Dinge in ihrer sensitiven Valenz, schlicht als unmittelbar haptisch und emotional wahrgenommene Phänomene, nicht dekonstruiert und in Diskurse eingeordnet?

Welche Paradigmen und Techniken rufen welche ‚Qualitäten‘ von Materialisationen von Wissen hervor (Rekonstruktionen, Rückzüchtungen etc.)?

Bitte beachten Sie bei der Einreichung Ihrer Abstracts folgende Anforderungen:

* Möglich sind Proposals für Einzelbeiträge und Vorschläge für  Panels (im Umfang von zwei Stunden).

* Die Abstracts sollten folgende Bestandteile enthalten: kurze inhaltliche Zusammenfassung, Angaben über Fragestellungen und empirische Grundlagen, Auskünfte über Forschungs-/ Projektkontext und Stand der Arbeit, Angaben über derzeitige Tätigkeit und beruflichen Werdegang der Bewerberin / des Berwerbers

* Es sollte sich um neue und unveröffentlichte Forschungsbeitrage handeln.

* Die Beiträge können auf Deutsch oder Englisch gehalten werden.

* Die Abstracts sollen eine DIN A4-Seite bzw. 2.400 Zeichen inkl. Leerzeichen nicht überschreiten.

* Die Einreichung ist auch in digitaler Version möglich (ausschließlich .rtf oder .doc Format).

 

***  EINSENDESCHLUSS IST IN JEDEM FALL DER 5. Oktober 2012 ***

 

dgv-Geschäftsstelle
c/o Institut für EE/KW
Biegenstr. 9
D-35037 Marburg
oder: geschaeftsstelle@d-g-v.de

Call for Papers – pdf.-Version:
http://www.d-g-v.org/sites/default/files/cfp_materialisierung.pdf

Call for Papers – English Version:
http://www.d-g-v.org/sites/default/files/cfp_materialisation_of_culture.pdf

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