Problematisieren und Sorge tragen: Kulturanalytische Konzepte von Öffentlichkeit und Arbeitsweisen des Öffentlichmachens
20.-22. Mai 2020, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien
Öffentlichkeit — als soziale und ökonomische Konfiguration, als materialisierter Ort und ideeller Raum der Auseinandersetzung — ist eines der umkämpften Konzepte moderner Gesellschaften. Besonders in krisenhaften Momenten wird Öffentlichkeit zum Anliegen, das problematisiert, in Frage gestellt oder verteidigt und für das deshalb auch Sorge getragen wird. Gesellschaftliche Polarisierung, ob sozial, ökonomisch, kulturell oder politisch, ist Auslöser und Ausdruck dieser Krisen von Öffentlichkeiten und Praktiken des Öffentlichmachens. Die vielfältigen Arbeitsfelder und Organisationsformen der Europäischen Ethnologie, Empirischen Kulturwissenschaft, Kulturanthropologie, Kulturanalyse und Volkskunde (im Folgenden unter EKW zusammen gefasst) sind heute wie schon in der Vergangenheit darauf angelegt, Wissen zu erarbeiten, zu vermitteln und dafür Öffentlichkeiten zu schaffen (z.B. Museen, Vereine, Universitäten).
In Zeiten der Krise von Öffentlichkeiten ergibt sich daraus für uns eine besondere Zuständigkeit für das Nachdenken über unterschiedliche Formen, Diskurse, Aushandlungen und Materialisierungen von Öffentlichkeiten wie auch des Öffentlichmachens. Diese Zuständigkeit stellen wir als Forschungsgegenstand und als konkrete, zu gestaltende Arbeitsweise ins Zentrum der Tagung, die der Österreichische Fachverband für Volkskunde in Kooperation mit dem Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien, und dem Österreichischen Museum für Volkskunde, Wien, ausstellt.
Welche Rolle spielt die EKW in Prozessen der Aushandlung von Öffentlichkeit? Und welchen Anteil an einer demokratischen Gestaltung des Öffentlichmachens kann die EKW durch ihre vielfältigen Arbeitszusammenhänge und Arbeitsformen (Freiberuflichkeit, Angestelltenverhältnisse oder Ehrenamt) in Momenten gesellschaftlicher Polarisierung haben?
Diese Fragen möchten wir auf der Tagung aus verschiedenen Perspektiven heraus in zwei Richtungen lenken:
(1.) auf die gesellschaftliche Positionierung des Fachs in Geschichte und Gegenwart von Öffentlichkeiten wie auch
(2.) auf das Potenzial der vielgestaltigen Arbeitsweisen der ehemaligen und gegenwärtigen EKW in der Kritik und Gestaltung zeitgenössischer Öffentlichkeiten.
Öffentlichkeit problematisieren
Öffentlichkeiten als alltagskulturelle Anliegen und Modi entstehen nicht allein in den dafür vorgesehenen Institutionen, wie etwa Parlamenten, oder nur an bestimmten Orten, wie Plätzen oder Kaffeehäuser, und in besonderen sozialen Konstellationen, wie Demonstrationen; auch ist die Artikulation von Öffentlichkeiten nicht auf spezifische Medien, wie Zeitungen, beschränkt. Vielmehr entstehen Öffentlichkeiten aus der Verbindung dieser Elemente und in der Vermittlung von Wissensproduktion. Dies gilt auch für die volkskundlichen (Fach-)Öffentlichkeiten, die in den Kontexten der Vereine, Museen und universitären Fächer entstehen. Der historische Anteil von Wissenspraktiken und wissenschaftlichem Wissen an der Gestaltung von Öffentlichkeit ist vielfach untersucht worden. So haben der Wissenschaftsforscher Bruno Latour und der Kunstkurator/Künstler Peter Weibel vor 15 Jahren in der Ausstellung „Making things public“ im ZKM Karlsruhe auf die diversen Praktiken hingewiesen, die zum einen Dinge qua Öffentlichmachen erst zu wissenschaftlichen Wissensobjekten gemacht haben und zum anderen auf diese Weise Öffentlichkeit unter dem Vorzeichen von Aufklärung und demokratischem Anliegen sowie der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft erst hervorgebracht haben. „Verwissenschaftlichung“ ist so gesehen aufs Engste mit Vergesellschaftung und zudem Versammeln und Verhandeln von Öffentlichkeit verknüpft.
Für die Tagung ergeben sich aus dieser Perspektive eine Reihe von Anknüpfungspunkten an die Rolle ethnographischen Wissens in allen Arbeitszusammenhängen der heutigen EKW und seiner gesellschaftlichen Wirkungszusammenhänge (vgl. u. a. Köstlin/Nikitsch 1999, Dietzsch u.a. 2009 u.v.a., Fenske 2011). Im Anschluss daran können Beiträge folgenden Fragestellungen nachgehen:
- Wie genau haben die Volkskunde und ihre Nachfolgedisziplinen im 19. und 20. Jahrhundert Öffentlichkeiten geprägt und gestaltet? Welche Zuschreibungen von Zuständigkeiten für bestimmte Öffentlichkeiten haben dabei stattgefundenen? Welche Bedeutung hatte dabei Problematisierung von Öffentlichkeit als Idee und von Öffentlichkeiten als gelebte Alltagskulturen – und welche Rolle sollte dies heute spielen? Welche Folgerungen lassen sich aus den Praktiken des Öffentlichmachens in den unterschiedlichen Berufsfeldern des Fachs in der Vergangenheit für dessen Zuständigkeit in der Gegenwart ziehen?
- Welche Rolle kann die EKW heute spielen, um Öffentlichkeit als ein alltagskulturelles Anliegen zu vertreten? Welche (impliziten) Konzepte und Vorstellungen von Öffentlichkeit werden artikuliert, wenn Anforderungen und Möglichkeiten, ethnographisches Wissen zu vermitteln, von Museen, in der Kulturarbeit oder in der universitären Lehre und Forschung thematisiert und problematisiert werden?
- Wie verändern interdisziplinäre und transkulturelle Kollaborationen (z.B. zwischen Kunst und EKW) Vorstellungen und Konzepte von Öffentlichkeiten?
Für Öffentlichkeiten Sorge tragen
Öffentlichkeiten zu einem Anliegen zu machen, heißt dafür Sorge zu tragen, dass sie nicht nur Teilnahme erlauben, sondern auch für Teilhabe offen sind und bleiben. Wege zu finden, wie dies gelingen kann, kann als Anforderung, Verpflichtung oder aber als Möglichkeit verstanden werden, die unterschiedliche Wissenspraktiken vom Forschen, Reflektieren übers Vermitteln miteinander verbindet. Die Wissensforscherin Maria Puig de la Bellacasa hat mit dem Begriff „matters of care“ auf die notwendige Offenheit für die spekulativen, d.h. ungesicherten Dimensionen dieser sorgenden Praxis hingewiesen (Puig de la Bellacasa 2011, 2017). Sorgetragen ist so gesehen eine ethisch begründete, feministische und in die Zukunft gerichtete Praxis, die unvorhergesehene Akteur*innen einzubeziehen weiß, um ein Anliegen als öffentliches Anliegen zu verwirklichen (u.v.a. Binder et al. 2019). Diese Aufmerksamkeit und Verantwortung für die Zukünfte demokratischer Öffentlichkeiten realisiert sich in forschenden, reflektierenden und vermittelnden Ansätzen. So findet ganz aktuell aufmerksames Sorgetragen, das unter dem Eindruck der weltumspannenden ökologischen Krise, sowie der sozialen und ökonomischen Polarisierung steht, ein Echo in interdisziplinären Zusammenhängen und unterschiedlichen Publikationsformaten (vgl. Fitz/Krasny 2019). Für die Tagung ergeben sich daraus auch in Anschluss an den dgv-Kongress 2019 folgende Fragen:
- Welche sorgetragenden Arbeitsweisen des Öffentlichmachens haben sich in den unterschiedlichen Berufsfeldern der EKW bewährt?
- Welche Konzepte des Problematisierens von Öffentlichkeit erlauben es uns, für die Zukunft von demokratischen Öffentlichkeiten Sorge zu tragen?
- Welche Arbeitsformate und Wissensformen eignen sich für die Verwirklichung des Anliegens Öffentlichkeit?
- Welches Potenzial haben interdisziplinäre und transkulturelle Kollaborationen (z.B. zwischen Kunst und EKW) mit Blick auf die Produktion von Öffentlichkeiten bereits gezeitigt, wie können sie weiterhin genutzt werden?
- Und wie lassen sich die spekulativen Anteile des Zukünftigen, d.h. die Wirkmacht unvorhersehbarer Akteur*innen ermöglichen?
Die zu beobachtende gesellschaftliche Polarisierung fordert die unterschiedlichen Berufsfelder und Arbeitsweisen der EKW heraus. In der Vielfalt der institutionellen Arbeitsfelder innerhalb und außerhalb der Universität und in den multi-medialen Wissenspraktiken und Gegenständen der Alltagskulturanalyse unseres Faches liegt das große Potenzial, Vorstellungen und Formen von Öffentlichkeiten und des Öffentlichmachens im Sinne demokratisch verfasster Gesellschaften kritisch zu hinterfragen und zu gestalten.
Wir laden Beiträge aus allen Arbeitsfeldern der EKW ein, sich in einer dieser Perspektiven zu verorten. Ganz konkret sind kulturanalytische Überlegungen aus den Bereichen bzw. über public anthropology, Wissensanthropologie und Wissenskommunikation, Organisations- und Arbeitsforschung, Politikforschung und Popularkulturforschung in historischer oder gegenwärtiger Perspektive ebenso willkommen wie Beiträge aus dem Bereich der kulturellen Praxis und Vermittlungsarbeit. Die Konferenz selbst ist eine Praxis des Öffentlichmachens mit der Absicht, Öffentlichkeiten zu schaffen und gleichzeitig über ihre Wirksamkeit nachzudenken. Deshalb freuen wir uns neben den bekannten Vortragsformaten über Beiträge, die sich in eigenständige Arbeitsformate einbringen oder diese vorschlagen. Folgende Formate sind denkbar und erweiterbar:
- Panel (Vortrag 15-20 Minuten)
- Workshop (kollaborative Arbeitsphase und Gemeinschaftspräsentation),
- Public Review (Vorlage von Text, Audio-/Visuellen Inhalten zum öffentlichen Review),
- audio-/visuelles Screening,
- öffentliches Brainstorming etc.
Ziel der Tagung und der darin stattfindenden Arbeitsformate ist es, laufenden Projekten ein Forum zu bieten, im Zusammenhang der Tagung an laufenden Projekten (z.B. Gemeinschaftspublikation Vade mecum) in öffentlichen Arbeitssessions weiter zu arbeiten. Konzepte, Begriffe und Arbeitsweisen können hier bereits öffentlich gemacht und diskutiert oder auch erst gemeinsam entwickelt werden.
Binder, Beate et al. (2019): Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlechtertheoretische Perspektiven. Budrich Verlag Leverkusen.
Fenske, Michaela (2011): Kulturwissenschaftliches Wissen Goes Public. Einblicke in den Aktionsraum von Wissenschaft und Öffentlichkeit am Beispiel volkskundlicher Enzyklopädien. In: Historische Anthropologie 19, 112- 122.
Fitz, Angelika/ Elke Krasny (2019). Ciricital care. Architecture and urbanism for a broken planet. MIT Press Boston.
Köstlin, Konrad / Herbert Nikitsch (Hg.) (1999): Ethnographisches Wissen. Zu einer Kulturtechnik der Moderne (= Veröffentlichungen des Instituts für Volkskunde 18). Wien 1999.
Latour, Bruno / Peter Weibel (2005): Making Things Public: Atmospheres of Democracy. MIT Press Boston.
Puig de la Bellacasa, Maria (2017), Matters of care: speculative ethics in more than human worlds, Posthumanities, Minnesota: University of Minnesota Press
Puig de la Bellacasa, Maria (2011): Matters of care in technoscience: Assembling neglected things. In: Social Studies of Science 41/1, S. 85-10.
Bitte, senden Sie bis zum 13.10.2019 Ihren Abstract (500 Wörter mit Angaben zu Inhalt, theoretischen und empirischen Grundlagen) plus eine Zuordnung zu einem Format oder Vorschlag für ein eigenes Format an. Hier werden auch Ihre Fragen zur Tagung beantwortet: oe_fachverbandstagung2020@univie.ac.at